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Justizministerium NRW

Quelle: Justiz NRW

Rede des Ministers der Justiz Dr. Benjamin Limbach anlässlich der Veranstaltung "Bonner Juristisches Forum e.V." "...zu achten und zu schützen..." - Aufgaben eines bürgerorientierten Rechtsstaats

24.01.2023

Es gilt das gesprochene Wort!

Die Überschrift meiner Rede – „…zu achten und zu schützen…“ – zitiert den Auftrag an alle staatlichen Gewalten in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG.
Dieser Auftrag muss gerade für uns, die wir in der Justiz und für die Justiz Verantwortung tragen, eine unser Handeln prägende Verpflichtung sein.
Was bedeutet das ganz konkret für mich?

Im Ausgangspunkt sehe ich mich in der Tradition einer klassisch liberalen Rechtspolitik. Demnach ist es in einem demokratischen Rechtsstaat zwingend erforderlich, staatliche Eingriffsbefugnisse auf ein notwendiges Maß zu beschränken. Bald wird es bereits 78 Jahre her sein, dass Deutschland vom Nationalsozialismus befreit wurde. Auch die Diktatur der SED liegt über 30 Jahre zurück. Dennoch müssen wir uns, gerade hier in Deutschland, diese Jahrzehnte des Totalitarismus immer wieder vor Augen halten. Als Rechtspolitiker habe ich eine herausgehobene Verpflichtung, Freiheitsrechte zu schützen und Schranken staatlicher Gewalt klar zu definieren.

Genauso sehe ich mich einer modern-liberalen Rechtspolitik verpflichtet. Während wir unseren Rechtsstaat in einem klassischen Verständnis seit 1949 durchaus liberal nennen können, ist dies unstreitig nicht in jeder Hinsicht so gewesen. Noch 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass der damalige § 175 StGB, der einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen Männern bestrafte, nicht gegen die Verfassung verstoße. Homosexuelle Männer wurden noch für Jahre strafrechtlich verfolgt. Erst im Jahr 1994 beschloss der Deutsche Bundestag die Streichung des § 175 StGB.
Noch in den Siebzigern regelte das BGB, dass Frauen nur arbeiten durften, solange sie die Familie nicht vernachlässigten. Einige Jahre vorher war noch die Zustimmung des Ehemanns vor der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit vorgesehen.
Der deutsche Staat wirkte bis weit in die Gegenwart in das Privatleben seiner Bürgerinnen und Bürger. Erst 2017 wurde es auch gleichgeschlechtlichen Paaren möglich die Ehe einzugehen. Mit dem derzeit von der Bundesregierung geplanten Selbstbestimmungsgesetz geht Deutschland einen weiteren Schritt in Richtung eines wirklich liberalen Rechtsstaats, der nur das regelt, was zu regeln ist, anstatt Menschen ein bestimmtes Lebensmodell aufzuzwingen.


Beide „liberalen Seiten“ dieses rechtspolitischen Verständnisses – Abwehr von Eingriffen und Freiheit zum selbstbestimmten Leben – sind wichtig. Sie sind auch noch im Jahr 2023 von hoher Relevanz und für mich eine wichtige Richtschnur.

Ich bin allerdings auch der Ansicht, dass wir gegenwärtig vor Problemen stehen, denen mit diesem Verständnis allein nicht ausreichend begegnet werden kann. Das rechtspolitische Grundsatzverständnis muss um einen weiteren Aspekt ergänzt werden.

Wir brauchen nicht nur eine abwehrende und Freiräume gewährende, sondern ebenso eine schützende Rechtspolitik. Um es direkt zu sagen: Gemeint ist keinesfalls ein paternalistisches Staatsverständnis, wie es in der „alten“ Bundesrepublik noch vorherrschte. Im Gegenteil: In meinem Verständnis eines modernen liberalen Rechtsstaats soll eben jede und jeder nach seinem eigenen Verständnis glücklich sein können und ihr und sein Leben nach eigenen Vorstellungen ausgestalten dürfen.

Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass solch eine selbstbestimmte und emanzipierte Gestaltung des eigenen Lebens zur Gefahr werden kann. Ich möchte anhand einiger Beispiele meinen Gedanken verdeutlichen:

Erstes Beispiel:
Gewalt gegen Frauen ist leider mehr denn je ein Thema bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten. Heute zwingt kein Bürgerliches Gesetzbuch eine Frau mehr dazu, den Ehemann nicht zu verlassen. Das heutige Recht stellt die Frau dem Mann ganz selbstverständlich gleich. Eine weitere Frage ist selbstverständlich, ob wir ausreichend Maßnahmen treffen, um diese Gleichstellung auch umzusetzen. In der Strafjustiz erleben wir allerdings tagtäglich Fälle, bei denen Frauen überhaupt nicht mehr frei leben können, weil ihr Partner es ihnen verbietet. Es sind Fälle, in denen Frauen schon beim Versuch, ihren Partner zu verlassen, schwerste Gewalt erleiden müssen. Fälle, in denen Frauen über die eigene Lebensführung nicht frei entscheiden können; und zwar nicht, weil es ihnen der Staat verwehrt, sondern der eigene Partner.

Ein Zweites:
Die organisierte Kriminalität ist leider seit vielen Jahren Realität in Deutschland. Auch in NRW haben wir mit unterschiedlichen Strukturen zu kämpfen. Die Fälle gerade aus dem Bereich des Menschenhandels und der Zwangsprostitution sind erschreckend. Die Gruppen schotten nicht nur sich, sondern insbesondere die Opfer vom Zugang des Rechtsstaats ab. Die Opfer, insbesondere die Frauen, werden völlig entrechtet.
Die Würde dieser Menschen wird „angetastet“, um es klar zu sagen: Sie wird mit Füßen getreten. Den Opfern wird ihre Freiheit in jeder Hinsicht genommen, nicht durch den Staat, sondern durch Kriminelle.

Ein Drittes:
Unsere Verfassung garantiert Religionsfreiheit. Es steht den Menschen in diesem Land frei, welcher Religion sie folgen möchten oder eben auch nicht. Sie haben das Recht religiöse Feiern zu begehen.
Wer von Ihnen selbst jüdisch ist oder in Kontakt steht zu Jüdinnen und Juden, der weiß, viele Familien überlegen sich, ob sie zum Pessach mit der Gemeinde in der Synagoge zusammenkommen sollen. Anschläge auf Jüdinnen und Juden haben so viel Angst verbreitet, dass dieses Recht faktisch ausgehöhlt wird.

Schließlich:
Wir erleben immer wieder homophobe und transfeindliche Gewalt. Diese reicht von Beleidigungen bis zu schwerer körperlicher Gewalt mit mitunter tödlichem Ausgang.
Heute muss sich kein schwuler Mann mehr vor dem Staatsanwalt verstecken. Viele Menschen der LSBTIQ+-Community berichten jedoch von Angst, im öffentlichen Raum erkannt zu werden und fürchten Gewalt. Sie halten sich deshalb in der Öffentlichkeit oft bewusst zurück, verzichten zum Beispiel darauf, die Hand des Partners oder der Partnerin zu halten.
Aus der LSBTIQ+-Community ist mir gesagt worden, dass viele Betroffene keine Anzeige erstatten, wenn sie verbale oder körperliche Gewalt erleben. Teilweise besteht die Befürchtung einer erneuten Diskriminierung im Strafverfahren, teilweise gehen Opfer davon aus, dass eine Anzeige zu nichts führt.
Das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit findet hier seine Schranken nicht in den Rechten anderer, sondern in einer faktischen Beeinträchtigung durch Dritte.

Der Rechtsstaat kann diese Situationen nicht einfach hinnehmen. Gerade ein freiheitlicher Rechtsstaat muss die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger auch vor den Eingriffen Dritter schützen, das heißt, die Freiheiten seiner Bürgerinnen und Bürger im Einzelfall auch durchsetzen. Die Menschen in unserem Land müssen – und da kommen nun alle drei genannten Dimensionen zusammen – frei, selbstbestimmt und sicher leben können.

Ebenso sind Rechtsgüter der Allgemeinheit in den Blick zu nehmen. Denken wir nur an die Klima- und Biodiversitätskrise. Mit der Kodifizierung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen als Staatszielbestimmung haben wir in unserem Gesellschaftsvertrag, dem Grundgesetz, die Bedeutung einer intakten Umwelt für unsere Freiheit anerkannt. Wir müssen aber fragen, welche weiteren rechtspolitischen Maßnahmen zu ergreifen sind. Mit der Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Umweltkriminalität gehen wir in Nordrhein-Westfalen weitere Schritte beim Umweltschutz durch Strafrecht. Wir müssen aber in allen Rechtsbereichen den Wert von Umweltgütern hinreichend abbilden.
Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Gedanken bereits aufgegriffen und ausgehend von den Individualfreiheitsrechten den Gedanken des intertemporalen Freiheitsschutzes in seine Rechtsprechung aufgenommen. Ein wirklich freiheitlicher Rechtsstaat muss die Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger stets in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit im Blick halten. Das Bundesverfassungsgericht setzt diesen Weg nun konsequent fort und nimmt auch die Freiheiten derjenigen in den Blick, die heute noch nicht geboren sind.

Dieser Gedanke lässt sich im Übrigen auch auf die öffentlichen Finanzen übertragen und verlang eine nachhaltige Haushaltspolitik. Aber nicht nur das: Die Justiz in Nordrhein-Westfalen arbeitet derzeit den wohl größten Fall von Steuerkriminalität in der Geschichte der Bundesrepublik auf. Das ist sicherlich eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber denjenigen Personen und Unternehmungen, die ihre Steuern rechtmäßig abführen. Es geht jedoch genauso um den Schutz staatlicher Finanzen und die Integrität des Steuerwesens insgesamt.

Schließlich muss der demokratische Rechtsstaat sich selbst schützen. Das kann er seiner Natur nach allein nur eingeschränkt. Er muss den Menschen genügend Anlass geben, ihm auch ihr Vertrauen zu schenken. Dieses Vertrauen ist für ihn konstitutiv. In Deutschland haben wir nach dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts den Konsens entwickelt, dass unsere Demokratie wehrhaft sein muss. Sie darf sich nicht von Verfassungsfeinden in- und außerhalb der Institutionen vorführen lassen, sondern muss sie mit den Mitteln des Rechtsstaats bekämpfen. Unabhängig davon muss sich der Rechtsstaat jederzeit an die selbst gesetzten Regeln halten und für eine konsequente Rechtsdurchsetzung Sorge tragen. Dies gilt ganz besonders auch in den Fällen, in denen wir vielleicht selber inhaltlich mit der Entscheidung nicht einverstanden sind. Entscheidend ist die demokratische Legitimierung, einschließlich der Verfassungsmäßigkeit.

Diese Pflicht zur Durchsetzung des Rechts gilt gerade auch für die Freiheitsrechte der eigenen Bürgerinnen und Bürger.

Ich bin der Ansicht, dass dieser schützende Anspruch eines bürgerorientierten Rechtsstaats nicht im Widerspruch zu einem Rechtsstaat im klassischen Verständnis steht, im Gegenteil, er ist eine notwendige Ergänzung. Denn der liberale Rechtsstaat muss auch faktischen Freiheitseinschränkungen begegnen. Andernfalls steht seine Identität als liberaler, freiheitlicher Rechtsstaat in Frage.
Soweit staatliche Eingriffsrechte zugunsten von Freiheitsschutz und Freiheitsdurchsetzung in Konflikt mit bürgerlichen Abwehrrechten stehen können, ist dieser nicht unauflöslich. Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass sich beide Aspekte in einen sachgerechten Ausgleich bringen lassen.
Mir ist bewusst, dass nicht in jedem Fall eine einfache Lösung herbeigeführt werden kann. Unser Anspruch muss es dennoch sein, in allen Problemfeldern diesem Verständnis eines freiheitlichen Rechtsstaats gerecht zu werden.

Denn das Ziel muss sein, und ich wiederhole mich: Jeder muss sein Leben frei, selbstbestimmt und sicher verwirklichen können. Unsere Aufgabe als Verantwortliche im und für den Rechtstaat ist es, dies in allen angesprochenen Dimensionen zu gewährleisten, sprich: „zu achten und zu schützen“.

Vielen Dank!

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