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Landgericht Düsseldorf

Quelle: Justiz NRW

Landesarbeitsgericht Düsseldorf: Betriebsschließung - Massenentlassung und Sozialauswahl

Pressemitteilung Nr. 1/2024

08.01.2024

Der Kläger war bei der Beklagten, welche Aluminiumgussteile herstellte und ver-trieb, seit dem 01.02.2012 beschäftigt. Die Beklagte beschäftigte in ihrem einzigen Betrieb zuletzt knapp 600 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Am 01.03.2022 wurde über das Vermögen der Beklagten das Insolvenzverfahren in Eigenverwal-tung eröffnet. Der Sachwalter und der Gläubigerausschuss stimmten der Einstellung der Geschäftstätigkeit zum 31.12.2022 zu.

Nachdem die Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs am 24.11.2022 durch Spruch der Einigungsstelle für gescheitert erklärt wurden, stellte die Beklagte am 28.11.2022 Anträge auf behördliche Zustimmungen zur betriebsbedingten Kündigung nach dem SGB IX (schwerbehinderte Menschen) und BEEG (Elternzeit). Den Beschäftigten wurde die Gelegenheit eingeräumt, in eine Transfergesellschaft zu wechseln. Im Dezember 2022 sprach die Beklagte gegenüber allen Beschäftigten betriebsbedingte Beendigungskündigungen aus, soweit das Ende des Arbeitsverhältnisses nicht aus anderen Gründen feststand.

Alle Mitarbeitenden, auch der Kläger dieses Verfahrens, wurden ab dem 01.01.2023 unwiderruflich freigestellt. Ausgenommen waren die Beschäftigten des Abwicklungsteams, das ausweislich der von der Beklagten vorgelegten Anlage 53 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer umfasste, wobei gegenüber dreizehn Personen Kündigungen zum 31.03.2023 und gegenüber den übrigen vierzig Personen Kündigungen zum 30.06.2023 ausgesprochen wurden. Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 16.12.2022 zum 31.03.2023.

Die vom Kläger hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage hatte vor dem Ar-beitsgericht Solingen Erfolg. Die Kündigung sei zum einen aufgrund einer nicht ordnungsgemäßen Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG) rechtsunwirksam. Bei einer etappenweisen Betriebsstillegung habe der Arbeitgeber keine freie Auswahl, wem er früher oder später kündige. Es seien grundsätzlich die Arbeitnehmer mit den schwächsten Sozialdaten mit den Abwicklungsarbeiten zu beschäftigen. Die Beklagte habe hier die Sozialauswahl methodisch fehlerhaft durchgeführt, weil sie die Vergleichsgruppen fehlerhaft gebildet habe. So habe sie diese u.a. anhand der ursprünglich ausgeübten Tätigkeiten gebildet. Sie hätte die soziale Auswahl stattdessen anhand der noch im Abwicklungsteam anfallenden Tätigkeiten vornehmen müssen, zu denen die Beklagte nur unvollständig vorgetragen habe. Die daraus folgende Vermutung der fehlerhaften Sozialauswahl habe die Beklagte nicht widerlegt.

Die Kündigung sei außerdem wegen einer nicht ordnungsgemäßen Massenentlas-sungszeige gemäß § 17 KSchG i.V.m. § 134 BGB rechtsunwirksam. In der gegenüber der Agentur für Arbeit angegebenen Massenentlassungsanzeige habe die Be-klagte entgegen § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat nicht ordnungsgemäß mitgeteilt.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Kündigungsschutzklage.

Im Zusammenhang mit der Schließung des hier in Rede stehenden Betriebs sind aktuell bei dem Landesarbeitsgericht Düsseldorf 252 Verfahren bei verschiedenen Kammern anhängig. Diese betreffen überwiegend die ersten Kündigungen vom 16.12.2022 zum 31.03.2023. Weitere Verfahren betreffen von der Beklagten vorsorg-lich ausgesprochene Folgekündigungen zum 30.06.2023. Die Kläger verfolgen zudem in einzelnen Verfahren gemeinsam mit ihren Kündigungsschutzanträgen Zahlungsansprüche.

Am 09.01.2024 wird die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf die ersten Verfahren verhandeln. Neben dem Verfahren 3 Sa 529/23 stehen vier weitere Verfahren zur Verhandlung an (3 Sa 436/22, 3 Sa 532/23, 3 Sa 534/23 und 3 Sa 687/23). Die weiteren Verfahren sind überwiegend im Januar und Februar 2024 terminiert.

Landesarbeitsgericht Düsseldorf – 3 Sa 529/23
Arbeitsgericht Solingen, Urteil vom 13.04.2023 – 3 Ca 126/23

"Kündigungsschutzgesetz (KSchG) § 1 Sozial ungerechtfertigte Kündigungen

(3) Ist einem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen im Sinne des Absat-zes 2 gekündigt worden, so ist die Kündigung trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat; auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben. In die soziale Auswahl nach Satz 1 sind Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Der Arbeitnehmer hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt im Sinne des Satzes 1 erscheinen lassen.

§ 17 Anzeigepflicht

(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er

  • in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
  • in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
  • in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entläßt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlaßt werden.

(3) Der Arbeitgeber hat gleichzeitig der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten; sie muß zumindest die in Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 vorgeschriebenen Angaben enthalten. Die Anzeige nach Absatz 1 ist schriftlich unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen zu erstatten. Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrats nicht vor, so ist die Anzeige wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, daß er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach Absatz 2 Satz 1 unterrichtet hat, und er den Stand der Beratungen darlegt. Die Anzeige muß Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes enthalten, ferner die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriteren für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. In der Anzeige sollen ferner im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden. Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat eine Abschrift der Anzeige zuzuleiten. Der Betriebsrat kann gegenüber der Agentur für Arbeit weitere Stellungnahmen abgeben. Er hat dem Arbeitgeber eine Abschrift der Stellungnahme zuzuleiten.

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